Der Sicherheitsgurt – nicht immer unumstritten
Das Tragen eines Sicherheitsgurtes ist heute für die überwiegende Mehrheit der Autofahrenden selbstverständlich. Dem war jedoch nicht immer so. Ein Rückblick auf die hitzige Debatte, die der Einführung des Gurtenobligatoriums im Jahr 1981 vorausging.
Heute schnallt sich jede und jeder an – oder zumindest fast. Genau genommen 96 Prozent, wie aus einer Umfrage der Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFU) im Jahr 2019 hervorgeht. Und diese Sicherheitsmassnahme zeigt Wirkung: So ist die Zahl der Todesfälle und der Schwerverletzten seit Inkrafttreten der Gurtentragpflicht am 1. Juli 1981 gesunken.
Was allerdings für viele heute selbstverständlich erscheint, war es 1976, als der Bundesrat zum ersten Mal das Benützen von Sicherheitsgurten vorschrieb, aber keineswegs. Insbesondere in den Westschweizer Kantonen regte sich starker Widerstand. Ein unangeschnallter Walliser zog seinen Fall gar bis vor das Bundesgericht, das den Entscheid des Bundesrates im September 1977 schliesslich wieder kippte: Laut dem Hohen Gericht seien die sieben Weisen nicht befugt, dem Volk diese Pflicht aufzuerlegen.
Es brodelt unter der Kuppel
In den darauffolgenden Jahren werden im Bundeshaus hitzige Debatten geführt. Im Jahr 1977 mahnt FDP-Nationalrat Felix Auer den Bundesrat in einer Motion, das Obligatorium im Namen der Verkehrssicherheit so schnell wie möglich wieder einzuführen. Das weckt den Unmut derer, die auf die individuelle Freiheit pochen. Ein staatliches Eingreifen wird als paternalistisch und freiheitsberaubend angesehen. Argumente, die während der Pandemie mit der Aufforderung, sich impfen zu lassen, wieder aufgetaucht sind. «Die persönliche Freiheit kann dann eingeschränkt werden, wenn dadurch die Freiheit anderer Individuen geschützt wird oder es gar um deren Sicherheit geht. Das ist beim Sicherheitsgurt allerdings nicht der Fall», verkündet 1976 der Genfer André Gautier, Nationalrat der Liberal-Demokratischen Partei (LDP).
«Paternalismus» des Staates
Im Jahr 1979 zitiert Mario Soldini, Genfer Nationalrat der Partei Vigilance, den Präsidenten der «Vereinigung gegen technokratischen Missbrauch»: «Es ist offensichtlich, dass ein Fahrer, der sich nicht anschnallt, eine Entscheidung trifft, die keinerlei Auswirkungen auf die allgemeine Verkehrssicherheit haben kann (…). Aus welchem Grund masst sich der Staat das Recht an, ein Verhalten zu verbieten, das nur dem Betroffenen selbst schaden kann?» Diese Angriffe kontert der Bundesrat unablässig mit dem Argument, dass ein Unfall nicht nur Konsequenzen für die Einzelperson hat: «Es ist nicht nur die Angelegenheit jedes Einzelnen, sondern auch die Aufgabe des Staates, die Sicherheit im Strassenverkehr zu fördern und insbesondere die Lenker und Mitfahrer zu schützen. Dies hängt auch damit zusammen, dass der Staat aufgrund der Rettung und des Spitalaufenthalts der Opfer schwere finanzielle Belastungen zu tragen hat.»
Ein Sprung aus dem Auto ist illusorisch
Die Gurt-Skeptiker stellen überdies infrage, ob der Sicherheitsgurt tatsächlich ein wirksames Mittel ist, um die Mitfahrenden zu schützen. Sie argumentieren damit, dass er zu Verletzungen des Brustkorbs führen kann und die Passagiere das Auto bei einem Brand oder einem bevorstehenden Zusammenstoss nicht verlassen können. Auch darauf hat der Bundesrat die passende Antwort: «Natürlich gibt es Fälle, in denen aus dem Auto herausgeschleuderte Personen auf etwas Weichem (z. B. einem Heuhaufen) landeten und keine Verletzungen davontrugen, während ihr Fahrzeug Totalschaden erlitt. Diese Fälle sind aber derart selten, dass man sie nicht als Argument gegen das Anschnallen ins Feld führen kann. Es ist illusorisch, zu glauben, dass man ohne Gurt noch im letzten Moment und ohne schwere Verletzungen aus dem Fahrzeug springen kann, bevor es irgendwo hinabstürzt.»
Ein tiefer Röstigraben
Schliesslich hat das Volk das letzte Wort und stimmt am 30. November 1980 über das Gurtenobligatorium ab. Mit 51,6 Prozent resultiert ein hauchdünnes Ja. Was aus dieser Zahl jedoch nicht hervorgeht, ist der Graben zwischen den deutschsprachigen und den lateinischen Kantonen: Während Zürich und Basel-Stadt die Vorlage mit über 70 Prozent annehmen, wird sie in allen Westschweizer Kantonen und im Tessin verworfen. Und zwar wuchtig: Die Waadtländer Bevölkerung lehnt die Pflicht mit 72,8 Prozent, Genf mit 82 Prozent und der Jura mit 85,5 Prozent ab. Oben heraus schwingen allerdings die Walliserinnen und Walliser, die dem Gurtenobligatorium mit sage und schreibe 86,3 Prozent eine Abfuhr erteilen. Angesichts dieser massiven Ablehnung auf lateinischer Seite schrammt man knapp an einem nationalen Nein vorbei. Mehr als 40 Jahre nach dieser denkwürdigen Abstimmung würde fast niemand mehr den Nutzen von Sicherheitsgurten hinterfragen, da sich diese Massnahme bewährt hat.
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