Der Bund am Steuer
Der Bahnhofplatz in Zürich, in den 1930er Jahren.
Als in den 1920er-Jahren die Zahl der Fahrzeuge auf den Strassen rasant zunimmt, überträgt das Schweizer Stimmvolk dem Bund die uneingeschränkte Zuständigkeit für den Strassenverkehr. Nach langem Hin und Her wird 1932 ein erstes Bundesgesetz verabschiedet.
«Der Bund soll tun, was er besser kann als die Kantone, und die Kantone sollen tun, was sie besser können als der Bund» – dieser Ausspruch von Louis Ruchonnet, Bundesrat von 1881 bis 1890, dürfte zu Beginn des 20. Jahrhunderts so manchen Parlamentariern durch den Kopf gehen, als eine gesetzliche Regelung des rapide wachsenden motorisierten Verkehrs unausweichlich wird. Denn ähnlich wie bei Briefmarken, die durch die Welt reisen, oder bei Münzen, die ständig die Hand wechseln, liegt es in der Natur des Automobils, dass es unterwegs ist – oft weit über die Kantonsgrenzen hinaus. Zwar gibt es kantonale Konkordate aus den Jahren 1904 und 1914 zur Festlegung von Verkehrsregeln, doch weisen diese einige Schwachstellen auf. «Entscheidungen werden nur langsam getroffen und das Konkordat gibt keine Auskunft über die Luftschifffahrt und den internationalen Verkehr», kritisiert 1921 die Zeitung Le Confédéré, das Organ der radikal-demokratischen Partei des Kantons Wallis.
Ein neuer Artikel bringt Veränderung
Für viele ist es an der Zeit, dass der Bund das Steuer in die Hand nimmt und Gesetze über Motorfahrzeuge erlässt. Zu diesem Zeitpunkt schreiben wir die «Roaring Twenties» oder «Goldenen Zwanziger», wie die Phase zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929 genannt wird. Diese Jahre sind geprägt von einem gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Aufschwung, der als Reaktion auf die Zerstörungen des Ersten Weltkriegs folgt. Das Auto wird für immer mehr Gesellschaftsschichten erschwinglich, was sich auch an den Zahlen ablesen lässt: Die Anzahl Personenwagen in der Schweiz steigt von 5411 im Jahr 1914 auf 15 000 im Jahr 1922.
Vor diesem Hintergrund erteilen die Stimmbürger dem Bund die Kompetenz, Regeln für Fahrzeuge und Fahrer zu erlassen: Am 5. Mai 1921 stimmt der Souverän der Aufnahme von Artikel 37bis in die Bundesverfassung zu, nach dem der Bund befugt ist, «Vorschriften über Automobile und Fahrräder aufzustellen». Die Behörden in Bern beginnen sofort mit der Ausarbeitung des Bundesgesetzes über den Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr; ein erster Entwurf liegt bereits 1922 vor.
«Rasche Vorgänge» bei Unfällen
Der Bundesrat setzt sich allerdings nicht gänzlich über die Konkordate von 1904 und 1914 hinweg, «weil sich auf Grund dieser Konkordate bereits einheitliche Auffassungen gebildet und praktisch bewährt haben», wie er in seiner Botschaft vom 8. November 1922 betont. Dennoch müssen einige Punkte grundlegend überarbeitet werden, wie etwa die Haftpflicht bei Zusammenstössen. In seiner Botschaft von 1922 warnt der Bundesrat: «Die Vorgänge spielen sich bei Automobilunfällen ungemein rasch ab; der Verletzte, und oft auch die Zeugen, sind nicht in der Lage, sich ein klares Bild über die Umstände zu machen, die den Unfall herbeigeführt haben. Es liegt nicht selten ein Beweisnotstand vor, der zur Folge haben kann, dass der Verletzte leer ausgeht.» Zwischen den Geschwindigkeiten, die Autos in den 1920er-Jahren erreichen können (je nach Modell zwischen 50 und 90 km/h) und dem Tempo, das man von Fahrrädern und Pferden gewohnt ist, liegen Welten. Die Unfälle werden schwerwiegender – 1929 sterben 367 Menschen auf den Schweizer Strassen – und die Frage der Haftung sowie der damit verbundenen Kosten muss dringend geklärt werden. Der Gesetzgeber will die Beweislast vom Geschädigten auf den Schuldigen verlagern; Artikel 37 des Gesetzesentwurfs sieht eine strenge Haftung des Fahrzeughalters bei Unfällen vor.
Vorlage zwei Mal abgelehnt
Aber obschon der Souverän dem Bund erst vor Kurzem uneingeschränkte Kompetenzen im Bereich des Strassenverkehrs erteilt hat, scheitert die erste Fassung des Gesetzes im Jahr 1927 an der Urne. Radfahrerverbände haben sich gegen die in der Vorlage vorgesehenen kostenpflichtigen Kontrollschilder gewehrt. Nachdem das Stimmvolk im Jahr 1929 auch eine zweite Vorlage versenkt hat, wird das Bundesgesetz über den Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr im November 1932 schliesslich für gut befunden und am 1. Januar 1933 in Kraft gesetzt. Damit verfügt die Schweiz 28 Jahre nach dem ersten interkantonalen Konkordat nun endlich über ein Gesetz, das den Strassenverkehr auf gesamtschweizerischer Ebene regelt. Für die Verkehrsteilnehmenden wird damit vieles einfacher, da sie sich nicht mehr mit kantonal unterschiedlichen Vorschriften herumschlagen müssen. Ausserdem können dank dieser Zentralisierung Anpassungen rascher vorgenommen werden. Im Jahr 1958 wird das Gesetz grundlegend revidiert und zudem umbenannt: Das neu betitelte Strassenverkehrsgesetz regelt noch heute, wie wir uns im Strassenverkehr zu verhalten haben.
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